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eine Kurzgeschichte von
Wolfgang Falk



Wesentliche Realität



„Vati, Vati“, hört man in der Ferne einen kleinen hilflosen Jungen in ängstlichem Ton rufen, „Werden wir, wie du es immer gesagt hast, unsere Existenz verlieren? Und was ist das überhaupt: Existenz?“ „Ich kann nur vom Schlimmsten ausgehen und wenn es besser kommt, können wir uns freuen und ein Dankgebet sprechen. Wie ich dir das mit der Existenz erklären kann, weiß ich noch nicht.“ Das war nicht die Antwort, die der Junge, Timmy hieß er, hören wollte. Er war dadurch nicht schlauer geworden und es beunruhigte ihn, dass er von seinem Vater eine so unklare Antwort bekommen hatte. Das konnte nur bedeuten, dass die klare Wahrheit zu hart gewesen wäre und Vati es verhindern wollte, Timmy mit Einzelheiten Angst einzujagen. Timmy kannte seinen Vati doch sehr gut, er hat sich schließlich nicht acht Jahre lang für nichts und wieder nichts erziehen lassen und er wusste aus der Vergangenheit, hier kann etwas nicht stimmen. Jetzt bekam er Angst.
In der Küche saß Mutter, den kleinen Bruder stillend, erneut geschwängert, und die Asche von der im rechten Mundwinkel steckenden Zigarette drohte jeden Moment auf den Boden zu fallen – jetzt liegt sie zusammen mit der Asche von schätzungsweise mindestens 30 weiteren Zigaretten in der Ecke neben dem Kühlschrank. Das Fenster war nicht geöffnet und Timmy verspürte ein Gefühl im Hals, als müsste er jeden Moment ersticken. Das konnte er nicht verstehen. Mutti hatte noch niemals zuvor geraucht, eine Sache auf die sie immer ganz besonders stolz war. Sie hasste es, wenn mein Vati rauchte. Von diesem Moment an verstand Timmy die Welt nicht mehr. Vorwurfsvoll blickte er zu Mutti, die offensichtlich keinen Gedanken daran verschwendete, sich ihm zuzuwenden. Timmy verließ die Küche und wollte das Haus über die Terrassentür verlassen, als er plötzlich nasse Füße bekam.
Vati hielt sich in der Gartenlaube auf, die er erst letztes Jahr im Sommer fertig gestellt hatte. Der Fernsehaperrat lief. Er war laut gestellt. Plötzlich hörte Timmy die Stimme unseres Nachbarn, Heinrich Klöppel. Er fluchte und brach kurz darauf in Tränen aus. Vati sprach ihm sein Beileid zum Verlust seiner Frau aus. So weit Timmy das mitbekam, wurde sie zusammen mit ihrem Auto von einer Flutwelle unerwartet von der Landstraße gespült. 500 Meter vom Unfallort wurde sie aufgefunden.
In den Nachrichten erzählten sie, dass westlich der Elbe schon 56 Quadratkilometer überschwemmt wären. Das Wasser käme von Osten, so sagte Timmy im Nachhinein. Wir wohnten westlich der Elbe und es konnte sich nur noch um wenige Stunden handeln, bis das Wasser auch uns in vollen Zügen heimsuchen würde. Er beschloss, sich Gummistiefel aus dem Keller zu holen, doch als er die Türe oberhalb der Treppe öffnete, erschrak er. Er beobachtete eine Weile das in den Kellerraum einströmende Wasser, dann verschloss er die Tür wieder. Als er sich die Hose ausgezogen hatte, lief er eine Runde ums Haus. Anschließend ging Timmy zu seinem Vati. In diesem Moment verblasste das Bild vom Fernseher, auch der Ton war nicht mehr zu hören. „Das war es dann wohl. Ohne Stromversorgung sind wir so gut wie verloren“, schimpfte Vati lautstark. Timmy berichtete ihm, dass sie sich auf einer Insel befinden würden, wo noch ein Tag zuvor Äcker und Felder das Haus umschlossen. Mit einem künstlichen Lächeln fertigte Vati ihn ab, ein überflüssiges Lächeln, so, als wenn Timmy mit seinen acht Jahren den Ernst der der Lage nicht erkennen könnte. Da entdeckte er im knöcheltiefen Wasser einen Liegestuhl und legte sich nieder. In den Himmel blickend ließ Timmy sich Nassregnen und begann, sich Gedanken darüber zu machen, was die wesentliche Existenz eines Menschen eigentlich ausmacht:
„Was brauche ich Gold und Geld, wenn ich mein Leben habe? Ich kann nicht verstehen, warum sich Vater so aufregt. Vielleicht werden wir unser Haus, unser Auto, unsere Gartenlaube verlieren. Die CD-Sammlung von Mutter wird in den Fluten untergehen und meine Spielekonsole ebenfalls. Doch wenn ich an Herrn Klöppel denke, dann weiß ich, dass er nicht seinem Haus nachtrauert. Ich weiß, dass er dem wesentlichen, dem Leben, dem seiner verstorbenen Gattin, nachtrauert. Doch was hat Vati verloren? Und wieso soll das Leben meiner Mutter nun zu Ende gehen? Sie trägt ein kleines Wunder im Bauch und Eines hält sie Tag für Tag auf dem Arm. Niemand ist zu schaden gekommen, zumindest zu keinem wesentlichen, aber jeder, der direkt betroffen ist, meint, dass sein Leben von heute auf morgen nicht mehr lebenswert sei. Bedeutet, existent zu sein, materiell ausreichend bestückt zu sein? Kann man sagen, dass das die Realität ist? Bedeutet, existent zu sein, nicht einfach, dass man existiert, so wie man lebt? Man sagt,… Timmy wurde durch den Schrei von Mutti aus seinen Gedanken gerissen. Er stand mit seinem Stuhl mittlerweile so tief im Wasser, dass allein sein Kopf herausschaute. „Komm´ ins Haus, wir müssen in den ersten Stock. Das Wasser steigt im Minutentakt.“ Mit Mühe und Not kam er rechtzeitig zur Eingangstür. Zusammen gingen sie die Treppe hinauf und setzten sich im Schlafzimmer auf die Bettkante. Vati regte sich auf, dass niemand kommen würde, um wenigstens die nötigsten Dinge aus dem Haus zu retten. Und während er fluchte und schimpfte und Timmy begriff, dass sein Vater mit den Nerven am Ende ist, legte er seinen Kopf nieder in den Schoß seiner Mutter, besten Willens, seinen Gedanken zu Ende zu denken, um vielleicht eine Lösung herbeizuführen …, „Man sagt, jetzt habe ich mein ganzes Leben gearbeitet, für nichts und wieder nichts“, ohne auch nur einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden, dass man sein ganzes Leben gearbeitet hat, um sein Leben und das seiner Familie zu erhalten. Wie kann es sein, dass die Wertschätzung für das nackte Leben verloren ging? Mit Sicherheit wird es Orte auf der Welt geben, an denen die Menschen ohnehin nichts weiter besitzen, als ihr nacktes Leben. Und ich wünsche ihnen, dass sie auch niemals in den Genuss kommen werden, darüber hinaus Reichtümer als ihr Eigen betrachten zu können.“ Und abermals wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Vor dem Schlafimmerfenster war ein Mann in einem Schlauchboot zu sehen. Er trug einen grünen Anzug und eine Mütze. An seiner Jacke waren einige wenige Orden befestigt. Er forderte uns auf, schnell und vorsichtig in das Boot zu steigen. Timmy traute seinen Augen nicht, wie hoch das Wasser angestiegen war. Von der Gartenlaube war nur noch das obere Ende des Fahnenmastes zu sehen. Sie lag einige Meter tiefer als das Haus. In dem Boot saßen einige unserer Nachbarn. Sie waren schon zuvor gerettet worden. Für meine Eltern bedeutete das, sie hatten nicht die Möglichkeit, einen Teil ihrer Sachen zu retten. Nur eine Tasche mit dem Allernötigsten durften wir mit an Bord nehmen.
Langsam begann das Boot an Fahrt zu gewinnen und wie Timmy sich die soeben entstandene Seenlandschaft anschaute, konnte er sich nicht dagegen zur Wehr setzten, seine Gedanken innerlich zu durchleben: „Was ist eigentlich Realität? Real ist, dass das Wasser kam und uns das Haus nahm, wie vielen anderen, mitsamt der CD-Sammlung und der Spielekonsole. Aber wenn ich einmal ganz tief in mich hineinhorche, dann weiß ich, dass es unrealistisch ist, dass ein Jeder diese Dinge benötigt.“ Dann begann der Mann im grünen Anzug uns zu erläutern, wie die Situation im Gesamtbild aussieht und das mehrere hundert Quadratkilometer überschwemmt seien. Zur Turnhalle, der auf dem höchsten Punkt des Dorfes liegenden Grundschule, würde er uns bringen. Dort sei ein Notlager für alle Dorfbewohner eingerichtet worden.
Von der Anlegestelle des Bootes aus mussten wir den Hügel hinauf zum Eingang laufen. Eingetreten bot sich ein Bild der Not. Abgekämpfte, teilweise durchnässte Menschen, rechts in der Ecke ein Stand mit warmer Erbsensuppe, links daneben Ärzte vom Roten Kreuz zur Sofortversorgung von akuten Fällen, mittig situiert Liegen von der Bundeswehr zum Ausruhen. Vati hatte sich fast bis zum Herzinfarkt aufgeregt und musste behandelt werden. Mutti ging mit mir, dem kleinen und Timmy etwas Suppe holen. Nach dem Essen stieß auch Vati zu uns. Timmy war der erste, der sich niederlegte und allem Anschein nach in Gedanken vertieft war: „Eine letzte Frage stelle ich mir. Wie wird in dieser Welt Liebe definiert? Ich würde sagen Liebe ist relativ und nur individuell definierbar, doch wer Liebe definiert, der definiert sich dadurch selbst, weil es allem Anschein nach keinen modernen Menschen gibt, der einen anderen Menschen, die Natur oder sein Haustier mehr liebt als sich selbst. Im Einzelfall liebt er sein Geld mehr. Menschen definieren sich über Geld und andere Schätze aber nicht über sich selbst. Das nackte Leben wird dabei in den Hintergrund gezwängt. Viele Leute lernen und…“ und urplötzlich wurde es Timmy zu bunt. Er schaute Vati direkt in die Augen. Eine in der Ecke stehende Kiste ergreifend und als Podest nutzend begann er zu den Leuten ohne Scham zu sprechen: …“ Viele Leute lernen und arbeiten um sich eine Yacht, ein Haus, einen Mercedes zu kaufen. Doch man wird geboren, ohne Besitztümer, nur mit dem nackten Leben. Und wenn man anschleißend im Sterbebett liegt, besitzt man plötzlich nicht mehr, als sein nacktes Leben. Und dann muss man sich die Frage stellen, welchen Sinn sein Leben gehabt hat. Würde man aber arbeiten, und auf seine Yacht verzichten, um Menschen, die Not erleiden zu helfen, so hätte man etwas gutes getan und im Sterbebett würde einem der Sinn seines Lebens bewusst werden. Und genau das ist auch der Grund, weshalb ich denke, dass Geld die Liebe belastet, die Zwischenmenschlichkeit verhindert und die Solidarität zerstört. Und da kann mir auch niemand widersprechen. Wenn nämlich jeder Millionär, Millionär in Broteinheiten wäre, dann wäre er nicht in der Lage, dieses allein für sich zu nutzen, bevor es ungenießbar ist. Nein! Dann würde er von sich aus den Bedürftigen damit behilflich sein. Das Geld hat aberkein Verfallsdatum, darum behält es der reiche Mann für sich selbst, obwohl er auch das in seinem Leben nicht für sich allein sinnvoll investieren kann. Ihr alle geht auch arbeiten, um eure Kinder zu ernähren. Sind diese etwa mehr wert, als andere Menschen?“ Timmy wurde von Vati von seinem Podest heruntergeholt. Er versuchte ihm begreiflich zu machen, dass die Opfer, wie er sie betitelte, momentan andere Sorgen hätten, als für Kinder in der dritten Welt zu spenden.
Timmy wandte sich von Vati ab. Er wusste genau, dass Vati ihm wieder einmal nicht richtig zugehört hatte und das ärgerte ihn. Niemand hört einem Kind richtig zu. Doch plötzlich ertönte aus der Ecke ein Klatschen, welches wieder schnell verblasste. Es war Herr Klöppels Klatschen. Doch die schiefen Blicke zwangen ihn dazu, sich unauffällig wieder unter das Volk zu mischen. Timmy fragte Mutter nach ihrer Meinung. Sie stimmte ihm zu: „Du hast ja recht, ich denke ja eben so. Aber…“ Die darauf folgenden Worte seiner Mutter überhörte Timmy. Er dachte: „Genau das ist der Fehler. Die Menschen denken zu viel und das ist der Grund, weshalb sie keine Zeit dafür finden, zu handeln.“